Aus Österreich haben sich drei Mitglieder des Europäischen Parlaments der Disability Intergroup angeschlossen. Der KOBV Österreich hat sie zu Ihrer Behindertenpolitik in der EU interviewt.
Das Interview führte Mag.a Viktoria Antrey in schriftlicher Form am 14. April 2025
Frau Mag.a Regner, warum war es Ihnen ein Anliegen, sich der Disability Intergroup freiwillig anzuschließen?
Weil ich der tiefen Überzeugung bin, dass jeder Mensch die gleichen Chancen im Leben verdient – unabhängig davon, ob er oder sie mit einer Behinderung lebt. Gerade im Bereich der Inklusion sehen wir noch immer massive Barrieren. Menschen mit Behinderungen werden europaweit nach wie vor benachteiligt – sei es beim Zugang zu Bildung, beim Arbeitsmarkt oder bei der politischen Teilhabe. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Die Disability Intergroup im Europäischen Parlament ist für mich daher ein Ort, an dem wir genau diese strukturellen Ungleichheiten politisch thematisieren und gemeinsam an Lösungen arbeiten.
Gab es ein persönliches Schlüsselerlebnis oder eine Begegnung, die Ihr Bewusstsein für Behindertenpolitik besonders geschärft hat?
Es gibt Menschen, die einem im Leben viel mitgeben – durch ihre Haltung, ihre Energie, ihr ganzes Sein. Für mich war Herbert Pichler so jemand.
Mag.a Evelyn Regner
Es gibt Menschen, die einem im Leben viel mitgeben – durch ihre Haltung, ihre Energie, ihr ganzes Sein. Für mich war Herbert Pichler so jemand. Unsere Zusammenarbeit im ÖGB hat mich nachhaltig geprägt. Herbert war ein leidenschaftlicher Gewerkschafter, genau wie ich. Er leitete das „Chancen Nutzen“-Büro des ÖGB, eine Anlaufstelle für Arbeitnehmer:innen mit Behinderungen, ältere Menschen und Personen mit psychischen Erkrankungen. Ich selbst war damals im ÖGB für EU-Projekte zuständig und so haben Herbert und ich immer wieder gemeinsam gearbeitet. Diese Zusammenarbeit war für mich nicht nur fachlich bereichernd, sondern auch persönlich inspirierend. (…) Durch ihn habe ich hautnah erlebt, mit wie vielen strukturellen Herausforderungen Menschen mit Behinderungen tagtäglich konfrontiert sind – oft im Stillen, oft ohne die Unterstützung, die ihnen eigentlich zusteht. Diese Erfahrung hat mein Bewusstsein für Behindertenpolitik geschärft.
Die Disability Intergroup gilt als wichtige fraktionsübergreifende Plattform. Was möchten Sie dort konkret einbringen?
Die Disability Intergroup ist eine zentrale Plattform im Europäischen Parlament, um die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf die politische Agenda zu setzen. Als Sozialdemokratin möchte ich mich in der Intergroup vor allem für die konsequente Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in allen Politikfeldern einsetzen. Das heißt: Jede neue EU-Initiative – vom Klimagesetz über digitale Infrastruktur bis hin zur Arbeitsmarktpolitik – muss inklusiv gestaltet werden. Es darf keine strukturellen Barrieren mehr geben, weder in der Gesetzgebung noch in der praktischen Umsetzung.
Wo sehen Sie den größten politischen Hebel der Intergroup – eher bei gesetzgeberischem Einfluss oder im gesellschaftlichen Diskurs?
Die besondere Stärke der Disability Intergroup liegt aus meiner Sicht in ihrer Rolle als Brückenbauerin: Hier arbeiten parteigrenzen- und ausschussübergreifend Menschen zusammen, die die Situation für Menschen mit Behinderungen verbessern wollen. Die Intergroup bringt den gesellschaftlichen Diskurs mit der aktuellen Gesetzgebung zusammen. Sie schafft Sichtbarkeit für Anliegen von Menschen mit Behinderungen, gibt ihnen eine Bühne im Europäischen Parlament und trägt dazu bei, das Verständnis für Barrierefreiheit und Teilhabe zu stärken.
Gibt es ein Projekt oder Ziel, das Sie in der laufenden Legislaturperiode gemeinsam mit der Intergroup besonders vorantreiben möchten?
Ein Thema, das aktuell nicht auf der großen Agenda steht, aber das mir besonders am Herzen liegt, ist die Situation von Angehörigen von Menschen mit Behinderungen, insbesondere innerhalb von Familien.
Mag.a Evelyn Regner
Ein Thema, das aktuell nicht auf der großen Agenda steht, aber das mir besonders am Herzen liegt, ist die Situation von Angehörigen von Menschen mit Behinderungen, insbesondere innerhalb von Familien. Denn dort wird tagtäglich enorm viel geleistet – oft unsichtbar, oft unbezahlt, und oft unter großen Belastungen. Gerade Eltern und Geschwister von Kindern mit Behinderungen stemmen unglaubliche Herausforderungen. Sie kämpfen für passende Therapieplätze, für inklusive Bildung, für Unterstützungsleistungen und das meist neben dem Beruf. Kinder stecken oft sehr zurück, wenn ihre Geschwister durch ihre Behinderungen mehr Aufmerksamkeit benötigen. Diese Familien verdienen mehr als bloße Anerkennung, sie brauchen echte politische Unterstützung. Ich möchte mich dafür einsetzen, dass dieses Thema endlich auf europäischer Ebene sichtbarer wird.
EU-Politik und konkrete Maßnahmen
Der EU-Behindertenpass ist ein zentrales Thema dieser Legislatur. Wo sehen Sie seine größten Chancen – und wo liegen die noch ungelösten Herausforderungen?
Der Europäische Behindertenausweis ist ein wichtiger Schritt für mehr Inklusion in der EU. Ab Juni 2028 wird ein anerkannter Behindertenstatus nicht nur im eigenen Land, sondern auch in allen anderen EU-Staaten gelten. (…) Doch die Einführung ist nur der Anfang. Auch wenn es uns noch nicht gelungen ist, den Geltungsbereich des Europäischen Behindertenausweises über Kurzzeitaufenthalte von bis zu drei Monaten hinaus auszuweiten, steht dieses Anliegen weiterhin auf unserer Agenda. Ein wichtiger Fortschritt ist jedoch, dass bei EU-Mobilitätsprogrammen wie Erasmus auch längere Aufenthalte abgedeckt sein werden. Jetzt ist es entscheidend, dass die Richtlinie gut in österreichisches Recht umgesetzt wird – damit ab Juni 2028 möglichst viele Menschen davon profitieren können.
Erst kürzlich hat sich die EU der Evaluierung der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention unterzogen. Der UN-Ausschuss hat dabei einiges an Handlungsbedarf erkannt. Unter anderem fordert er, dass der europäische Behindertenausweis in seinem Geltungsbereich ausgeweitet werden soll. Wie stehen Sie dazu und was sind Ihre Schlüsse, die Sie daraus ziehen und welche Handlungen leiten Sie davon ab?
Die Kritik des UN-Ausschusses ist ein deutlicher Handlungsauftrag an die EU. Besonders zentral ist dabei die Forderung, den Europäischen Behindertenausweis weiterzuentwickeln. (…) Der EU-Behindertenausweis ist ein wichtiger erster Schritt. Doch langfristig brauchen wir eine echte Gleichstellungsperspektive: Der Ausweis muss auch den Zugang zu Bildung, Arbeit und sozialen Dienstleistungen erleichtern. Nur so können auch Menschen mit Behinderungen die Niederlassungsfreiheit in Europa vollständig nutzen.
Im Europäischen Parlament haben Sie mehrfach betont, dass Barrierefreiheit kein „Nice-to-have“ sei. Wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf in Europa?
Barrierefreiheit ist die Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben. Doch in vielen Bereichen ist Europa noch weit davon entfernt, dieses Recht flächendeckend umzusetzen. Besonders im öffentlichen Verkehr braucht es endlich verbindliche EU-Standards und gezielte Investitionen. Barrierefreiheit bedeutet aber auch, Menschen dabei zu unterstützen, so selbstständig wie möglich arbeiten zu können. Dafür brauchen wir bessere Förder- und Ausbildungsprogramme und ein Umdenken in der Arbeitsmarktpolitik. Die klassische „Sonderstruktur“ von Werkstätten für Menschen mit Behinderungen ist nicht mehr zeitgemäß. Sie schafft oft keine echte Perspektive auf reguläre Beschäftigung und verfestigt soziale Ausgrenzung. Stattdessen braucht es inklusive Arbeitsmodelle, echte Bezahlung, Qualifizierung und Unterstützungsangebote, die Wahlfreiheit ermöglichen.
Wir müssen die Kompetenzen der Menschen in den Fokus stellen, nicht ihre Einschränkungen.
Mag.a Evelyn Regner, SPÖ
In der Vergangenheit konnten rund 800.000 Menschen mit Behinderungen in der EU nicht wählen. Wie kann die EU sicherstellen, dass das 2024 nicht mehr passiert?
Das Wahlrecht ist ein Grundpfeiler jeder Demokratie und muss für alle Menschen in Europa uneingeschränkt gelten. Dass so viele Menschen bei den letzten Europawahlen vom Wählen ausgeschlossen waren, ist ein demokratischer Skandal.
Die EU muss endlich handeln: Rechtliche Ausschlüsse aufgrund von Behinderungen gehören abgeschafft und Wahlen müssen barrierefrei gestaltet werden.
Mag.a Evelyn Regner, SPÖ
Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft
Sie stehen regelmäßig im Austausch mit Behindertenverbänden. Was nehmen Sie aus dem Dialog mit Organisationen wie dem KOBV oder dem Österreichischen Behindertenrat für Ihre Arbeit in Brüssel und Straßburg mit?
Der Austausch mit Organisationen wie dem KOBV oder dem Österreichischen Behindertenrat ist für meine Arbeit auf europäischer Ebene unverzichtbar. Sie wissen genau, wo die Barrieren liegen und was es braucht, um sie abzubauen. Ich schätze besonders, wie lösungsorientiert und klar diese Organisationen ihre Forderungen formulieren – immer mit dem Blick auf die Lebensrealität der Menschen. Genau das braucht es: Stimmen, die die Praxis kennen. Gleichzeitig brauchen wir auch euch, damit ihr uns helft, das Erreichte zu kommunizieren. Ihr seid nahe an den Menschen dran: Danke, dass ihr ihnen erzählt, dass es bald den EU-Behindertenausweis geben wird und welche Vorteile die Menschen dadurch haben werden.
Was können wir als Verbände tun, damit unsere Anliegen auf europäischer Ebene noch besser Gehör finden?
Eure Expertise und euer unermüdliches Engagement sind entscheidend dafür, dass Inklusion in Europa ein Thema ist und bleibt. Was es weiterhin braucht, ist genau das, was ihr bereits lebt: Laut sein, sichtbar sein, auf Entscheidungsträger:innen zugehen und nicht müde werden, Veränderungen einzufordern. Für Entscheidungen braucht es oft einen langen Atem. Aber euer Dranbleiben zahlt sich aus: das hat die Einführung des EU-Behindertenausweises gezeigt.
Blick nach Österreich
Die UN hat Österreich zuletzt für Rückschritte bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention kritisiert. Wie beurteilen Sie die Situation in Ihrer Heimat?
Die Kritik der UN ist leider berechtigt. Auch in Österreich ist die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention noch lange nicht abgeschlossen. Problematisch ist nach wie vor das System der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Viele Menschen mit Behinderungen sind dort, weil es oft keine echte Alternative gibt und nicht, weil sie sich aktiv dafür entschieden haben. Die Folge ist strukturelle Ausgrenzung statt Inklusion: getrennte Arbeitswelten, keine Sozialversicherung, keine echte Bezahlung, stattdessen ein „Taschengeld“, das den Wert ihrer Arbeit nicht anerkennt. Das widerspricht der UN-Behindertenrechtskonvention. Menschen mit Behinderungen leisten täglich wertvolle Arbeit. Sie verdienen dafür Lohn statt Taschengeld. Und sie verdienen echte Wahlfreiheit: Die Möglichkeit, mit Unterstützung am regulären Arbeitsmarkt teilzunehmen, statt in lebenslange Sonderstrukturen gedrängt zu werden. Dafür braucht es inklusive Arbeitsmodelle, gezielte Aus- und Weiterbildungsangebote und finanzielle Unterstützung für inklusive Betriebe.

Welche Impulse aus der EU könnten auch in Österreich für mehr Inklusion sorgen? Und umgekehrt: Welche Impulse aus Österreich sollten Ihrer Meinung nach Brüssel getragen werden?
Die Europäische Union kann ein echter Motor für Inklusion sein, gerade indem sie Mindeststandards setzt, Rechte sichert und die Mitgliedstaaten zu Fortschritt verpflichtet. Doch unser Anspruch geht darüber hinaus: Wir wollen voneinander lernen, bewährte Lösungen aus einzelnen Ländern sichtbar machen und dafür sorgen, dass gute Beispiele Schule machen – damit alle Menschen in der EU davon profitieren können. Umgekehrt gibt es auch Impulse aus Österreich, die auf europäischer Ebene mehr Aufmerksamkeit verdienen. Ein Beispiel ist das Wiener Modell im sozialen Wohnbau – dort wird Barrierefreiheit systematisch mitgedacht.
Welche Positionen in der Behindertenpolitik vertritt die SPÖ auf europäischer Ebene? Und welche Schwerpunkte wird die SPÖ als nunmehrige Regierungspartei puncto europäische Behindertenpolitik setzen?
Als SPÖ setzen wir uns auf europäischer Ebene konsequent für eine Politik der Inklusion, Gleichberechtigung und sozialen Gerechtigkeit ein. Wir stehen für gute, verbindliche Regelungen, und vor allem auch dafür, dass diese bei den Menschen wirklich ankommen. Ein gutes Beispiel ist der Europäische Behindertenausweis: Eine großartige Errungenschaft, für die wir Sozialdemokrat:innen lange gekämpft haben. Aber: Was bringt ein europaweiter Ausweis, wenn der Parksheriff oder die Ticketkontrolleurin im Museum ihn nicht kennt? Rechtliche Rahmenbedingungen sind wichtig, doch sie allein reichen nicht. Es braucht auch Information, Aufklärung und eine gute, flächendeckende Umsetzung. Daran wird jetzt unsere Bundesregierung arbeiten.
Persönliches & Ausblick
Wenn Sie auf die bisherige Behindertenpolitik im EU-Parlament zurückblicken: Worauf sind Sie besonders stolz?
Manchmal gibt es in der Politik Momente, in denen man ganz klar spürt: Jetzt haben wir etwas bewirkt, das den Alltag vieler Menschen wirklich verbessert. Für mich zählen dazu zwei ganz besondere Erfolge. Zum einen der Europäische Behindertenausweis – ein Herzensprojekt, für das wir Sozialdemokrat:innen lange gekämpft haben. Er sorgt endlich dafür, dass Menschen mit Behinderungen ihre Rechte auch grenzüberschreitend in Anspruch nehmen können. Es ist ein ganz konkreter Schritt hin zu einem Europa der gleichen Chancen. Zum anderen bin ich besonders stolz auf die Umsetzung der Marrakesch-Konvention. Sie ermöglicht Menschen mit Seh- oder Lesebehinderungen den Zugang zu Büchern, Zeitschriften und Wissen. Kulturelle Teilhabe ist ein Grundrecht.
Doch statt diesen Schritt zu gehen, hat die EU-Kommission die Richtlinie auf Druck einiger Mitgliedstaaten zurückgezogen. Das ist eine Schande! Aber wir geben nicht auf. Wir werden uns weiterhin für ein Europa einsetzen, das Diskriminierung konsequent bekämpft.
Mag.a Evelyn Regner
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der europäischen Behindertenpolitik – und was motiviert Sie persönlich, weiterzumachen?
Diskriminierung ist für viele Menschen nach wie vor Realität – sei es aufgrund von Behinderung, Geschlecht, sexueller Orientierung, Herkunft oder Religion. Und genau das können wir nicht so stehen lassen. Deshalb brauchen wir eine umfassende gesetzliche Antwort, die den Schutz vor Diskriminierung nicht nur auf den Arbeitsplatz beschränkt, sondern in alle Lebensbereiche trägt: in die Schule, ins Krankenhaus, ins Kino, zur Wohnungssuche. Die horizontale Antidiskriminierungsrichtlinie hätte genau das leisten können. Doch statt diesen Schritt zu gehen, hat die EU-Kommission die Richtlinie auf Druck einiger Mitgliedstaaten zurückgezogen. Das ist eine Schande! Aber wir geben nicht auf. Wir werden uns weiterhin für ein Europa einsetzen, das Diskriminierung konsequent bekämpft.
Der KOBV Österreich bedankt sich für das Interview!